Niemand geht hin an diesem Telefon. Foto: Michael Raubold

Der russischen Seele und Sprache auf der Spur sind Mamas und Kinder in der russ-landdeutschen Krabbelgruppe.

Am Eingang zum großen Saal im Gemeindehaus der evangelischen Kirche in der Pleidelsheimer Stuifenstraße 6 stehen zwei Kinder-Buggys an diesem Montag links und rechts Spalier. Ein blondes Mädchen sitzt auf dem Boden, presst sich den blauen Hörer ihres knallroten Spielzeugtelefons konzentriert ans Ohr, bekommt aber offenbar keinen Anschluss. Dafür schaut es mit großen Augen in die Runde. Doch alleine bleibt hier keiner lange. Schon wenig später bilden die Mamas mit allen kleinen Gästen einen Kreis. Am selben Ort findet wöchentlich der „Purzeltreff“ statt, dort haben sich die Anwesenden ursprünglich auch kennengelernt. Doch etwas ist anders als mittwochs: Als das erste Lied erklingt, dringen russische Wörter und Sätze ans Ohr, fügen sich zu Reimen und lautmalerischem Stakkato aneinander: „Taki, taki, taki, osch“ – so klingt es jedenfalls für deutsche Ohren. „Matroschjka“ nennt sich die Gruppe, die sich als russisch-deutsches Pendant zum „Purzeltreff“ vor eineinhalb Jahren gegründet hat.

Julia Gunt, 31-jährige Bankbetriebswirtin, ist mit ihren Töchtern Jana (2) und der acht Monate alten Luisa dabei. Sie wollen „ihre russischen Sprachkenntnisse erweitern“. Selbst rede sie mit ihren Kindern Deutsch, ihr Mann jedoch Russisch. „Für uns steht aber Deutsch an erster Stelle“, betont sie. Sie habe aber schon eine russische Ader. „Irgendwo fühle ich mich nicht wie eine typische Deutsche.“ Eine besondere Verbindung spüre sie schon im Urlaub in Russland. Als russlanddeutsche Aussiedler sind zumeist die Eltern der heutigen Mamas zwischen 1987 und 2005 nach Deutschland gekommen.

Was hier und heute noch russisch sei an ihnen? Den meisten, die bereits in Deutschland geboren sind, fällt dazu wenig ein, am ehesten noch russische Spezialitäten. Die kommen heute auch in Pleidelsheim auf den Tisch: Stapel saftiger Blinitschki, russische Pfannkuchen, werden zu Kaffee und Tee serviert. Daneben legt eine Mama Butterbrezeln, die Emma und Aurelia sichtlich mehr begeistern, emsig wird Butter nachgeschmiert.

Die Tischgespräche drehen sich um typische Elternthemen wie Kinderkrankheiten, eine Mama sagt zur anderen: „Du hast einen schönen Namen für deine Tochter gewählt.“ Im Hintergrund brutzeln und garen Steppkes und Dreikäsehochs jetzt an einem Miniatur-Plastikherd ihre Lieblingsgerichte in der Fantasie. Das Programm des Nachmittags ist vor allem gesellig: „Wir singen zusammen, jeder bringt etwas zum Essen mit“, so Julia Gunt. Gelegentlich ließen sich auch Papas blicken.

Dass alle Mütter Berufe erlernt haben, ist ihnen wichtig zu betonen. Industrie- und Bankkauffrauen, Steuerfachangestellte, aber auch eine Informatikerin sitzen da am reich gedeckten Tisch.Computerfachfrau in der Runde ist Elena Kleemann, 42 Jahre alt. Sie ist selbst noch in Russland geboren. Eben unterhält sie sich mit ihrer 75-jährigen Mutter, die ihre drei Enkel zum Gemeindehaus gebracht hat. „Die könnet ja au’ scho’ nimmer Russisch“, stellt die Oma fest. Eben entleert sich krachend eine Plastikkiste mit Lego-Steinen auf den Boden, die ein Kind umwirft.

„Wir sind sehr dankbar, dass Deutschland uns aufgenommen hat. Wir haben schöne Mädchen hergebracht, und alle hend einen Beruf gelernt“, meint sie, verschmitzt lächelnd. Ihr Fazit: „Wir können stolz sein auf unsere Kinder und Enkel!“

Die meiste Zeit ihres Lebens hat die Großmutter in einer auf Deutsch „Thälmanndorf“ genannten Ortschaft in Russland gelebt. Die Siedlung geht zurück auf deutsche Einwanderer, die einst unter Katharina der Großen Mitte des 18. Jahrhunderts nach Russland kamen.

Die bewahrten sich dort ihre Sprache und Kultur, auch die 250 Jahre alten Dialekte hielten sich, weil der Austausch mit dem sich rasch modernisierenden Leben in ihrer ursprünglichen, aber jetzt unerreichbaren deutschen Heimat praktisch unmöglich war. 50 Kilometer weit entfernt hätten Kasachen gelebt in der damaligen Sowjetunion. Das heutige Kasachstan und Russland sind jetzt aber ganz weit weg.

Die nächste und übernächste Generation hat sich in Pleidelsheim schon Hand in Hand aufgestellt. Acht Mütter und 18 Kinder stampfen mal rhythmisch mit den Füßen auf, mal klatschen sie in die Hände, dabei singen sie auf Russisch: „My Matrjoschki / vot takie kroschki / vot takie kroschki.“ Elena Kleemann übersetzt für den Gast ohne Russischkenntnisse, gemeinsam diskutieren die Mamas kurz über die passenden Ausdrücke, dann notiert sie auf Papier: „Wir sind Matrojschki, so kleine Krümel, auf dem Kopf haben wir Tücher und Blümchen“. Dass ihre Kinder in zwei Sprachen und Kulturen heimisch werden, zumindest aber regelmäßig etwas Russisch üben, ist ihr Anliegen.