Hier finden die Gottesdienste der DSM statt. Dass es dabei zu Prophezeiungen durch die Geistlichen kommt, kritisiert die evangelische Weltanschauungsbeauftragte. Foto: geschichtenfotograf

Für die Freitagsreportage hat Phillip Weingand die Deutsche Spätregenmission in Beilstein besucht.

Beilstein - Jeder Tag beginnt mit Gott. Und zwar ziemlich früh: Um vier Uhr gehen Männer wie der Elektriker Martin Obermark zum ersten Gottesdienst. Um acht beginnt die Arbeit. „Dazwischen gibt es Frühstück und ich kann noch ein wenig im Wort lesen. Morgens ist man noch frisch zum Nachdenken“, erzählt Obermark. Die Bibel gehört fest zu seinem Alltag, denn er ist eines von rund 100 Mitgliedern der Deutschen Spätregenmission (DSM), die auf einem Gelände am südwestlichen Rand Beilsteins leben. Das Glaubenshaus Libanon ist seit 1957 die Europazentrale der evangelischen Freikirche, weltweit die zweitgrößte Gemeinschaft ihrer Art.

Wie Martin Obermark arbeiten viele hier – „sie dienen“, wie es der DSM-Vorsitzende Martin Illig nennt. Neben den Elektrikern gibt es Flaschner, Maler, eine Autowerkstatt, eine Großküche, einen kleinen Laden und eine Schreinerei. Alles für den Eigenbedarf. Auch das Kirchengebäude ist in den 60er-Jahren von Mitgliedern gebaut worden. Nicht weit davon stehen Gewächshäuser, die Mission bewirtschaftet außerdem ein paar Felder.

Früher gab es im Glaubenshaus auch Vieh, doch die letzten Rinder sind im vergangenen Jahr geschlachtet worden. Es gibt kein Personal mehr, das sich um sie kümmern könnte; der Mitgliederschwund verschont auch die Spätregenmission nicht. Und so bleiben das Keyboard und das Schlagzeug im Jugendraum heute wieder einmal still. Draußen, auf dem missionseigenen Spielplatz, spielt zwar eine junge Mutter mit zwei Kindern, doch im Glaubenshaus Libanon leben vor allem Ältere. Wenn Jugendliche kommen, sind sie meist von außerhalb und wollen mit anderen DSM-Mitgliedern den Gottesdienst besuchen. Mit anderen Glaubenshäusern, etwa der internationalen Spätregen-Zentrale in Südafrika, gibt es intensiven Austausch; Dolmetscherkabinen sorgen dafür, dass jeder die Predigten versteht. Für manche Gebete gibt es jedoch keine Übersetzung. Die Spätregenmission praktiziert das Zungenreden – eine bewusst unverständliche Gebetsform, die die Fürbitte für Unbekanntes möglich machen soll. Eine weitere Besonderheit: Die Geistlichen sprechen Prophezeiungen aus. „Wie andere pfingstlich-charismatische Bewegungen gehen wir davon aus, dass diese Gabe des Heiligen Geistes in uns lebt“, erklärt Illig.

Besucher von außerhalb zu versorgen und die anderen drei Glaubenshäuser in Deutschland zu unterstützen, ist eine der großen Aufgaben der Libanon-Bewohner. Lange hatten sie dafür keinen Arbeitsvertrag. Martin Illig beteuert, das Engagement sei immer freiwillig gewesen. „Es geht uns nicht darum, im irdischen Sinne reich zu werden“, sagt er. Inzwischen gebe es aber Verträge und eine kleinere finanzielle Entschädigung. Im Januar dieses Jahres hat das Sozialgericht Heilbronn auch entschieden, dass die Spätregenmission die Rentenbeiträge von ausgestiegenen Mitgliedern nachzahlen muss. Laut Michael Maslo, der bei der DSM für Finanzen verantwortlich ist, geht es „um eine Summe in Millionenhöhe“. Hilfe aus Südafrika kann das Haus Libanon wohl nicht erwarten: Laut Martin Illig ist die DSM finanziell unabhängig.

Der Prozess um die Rentenbeiträge brachte die Freikirche nicht zum ersten Mal in schlechte Schlagzeilen. In den vergangenen Jahren bezichtigten Aussteiger in einem Onlineforum die südafrikanische Spätregen-Zentrale, Spenden zu veruntreuen. Sie schrieben auch von Psychoterror gegen Abtrünnige und von erniedrigenden Bestrafungsritualen. Im Jahr 2012 machten Ex-Mitglieder öffentlich, sie seien vor 40 Jahren im Haus Libanon sexuell missbraucht worden. Die mutmaßlichen Taten sind inzwischen verjährt, doch der Schaden bleibt – bei den Betroffenen und der DSM.

Seit 2012 leitet der heute 64-jährige Martin Illig die Mission. Er betont, die streng gläubige Gemeinschaft sei dabei, sich zu modernisieren: Im vergangenen Jahr habe es einen Tag der offenen Tür gegeben, die DSM vernetze sich immer mehr mit anderen Kirchen: „Wir sehen uns heute als kleinen Teil des Leibes Christi – als einen von vielen“, sagt Illig. Viele Regeln von früher gälten nicht mehr. Medien seien nicht länger tabu, das Tragen der blauen Tracht keine Vorschrift mehr für die Frauen. Jedes Mitglied müsse seinen Lebenswandel eben mit seinem Gewissen und der Bibel vereinbaren können. „Ein Gewächs, das in 50 Jahren entstanden ist, kann man eben nicht von heute auf morgen ändern“, meint Michael Maslo.

Die Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Landeskirche, Annette Kick, verfolgt die Wandlung der DSM schon länger. Sie betont, die Mission sei mit Sekten wie Scientology nicht vergleichbar, was den Druck auf Aussteiger angehe. Besonders die Mitglieder, die außerhalb der Glaubenshäuser leben, genössen Freiheiten. Aber: „Wenn es Menschen gibt, die behaupten, ihre Weisungen direkt von Gott zu erhalten, entsteht in den Gruppen ein großes Machtgefälle. Und dann steckt der Missbrauch im System“, meint sie. Spätregen-Aussteiger, mit denen sie in Kontakt steht, glaubten den Beteuerungen Illigs und der Spätregen-Führung in Südafrika, alles werde zum Guten gewendet, kaum. Denn daran, dass Gott selbst aus dem Mund der Spätregen-Propheten spricht, will die Freikirche festhalten.