In der Unterkunft leben Menschen verschiedener Nationalitäten, die laut Sozialarbeitern friedlich miteinander umgehen. Foto: Michael Raubold Photographie

In der Flüchtlingsunterkunft in Kirchberg leben 77 Menschen in einem Zelt. Privatsphäre ist da Fehlanzeige.

Kirchberg - Keine Spur von Hektik. Keine Spur von Betriebsamkeit. Kein Wunder. Es ist Mittagszeit. Da legen die meisten Arbeiter eine Pause ein. Auch im Kirchberger Gewerbegebiet Kalkwerkstraße. Nur ein paar Schüler sind gerade auf Achse, marschieren lachend an Autos, Lastern und Hofeinfahrten vorbei. Keines der Mädchen und Jungs biegt zu einem der wenigen Wohnhäuser ab. Stattdessen stiefeln sie immer weiter bis zum Ende der Straße und dann durch ein Tor. Erst jetzt haben sie ihr Ziel erreicht. Hier leben sie alle. In einem riesigen weißen Zelt, zusammen mit ihren Geschwistern, Eltern – und vielen anderen, wildfremden Menschen.

Genau 77 Frauen, Männer und Kinder sind es, die in der Gemeinschaftsunterkunft ein Dach über dem Kopf gefunden haben. Am Anfang waren es sogar 96, erzählt der Sozialarbeiter Reinhard Heider, der sich mit seiner Kollegin Timea Müller im Wechsel um die Asylbewerber kümmert. Der Rückgang erklärt sich dadurch, dass einige Bewohner weggezogen sind. Zum Beispiel wegen einer Familienzusammenführung. „Es gab auch einen Rückkehrer in den Irak“, sagt Timea Müller. Außerdem musste eine Familie mit einem behinderten Kind woanders einquartiert werden. „Das Kind hat viel geweint“, erzählt die Sozialarbeiterin. Das wächst sich in der Kalkwerkstraße 38 insofern schnell zum Problem aus, als die einzelnen Kabinen ohne Decken auskommen müssen. Man hört also jedes Husten, jedes Räuspern – und erst recht ein schreiendes Kind.

„In so einem Zelt herrscht null Privatsphäre. Wenn ein Licht angeht, ist überall Licht“, sagt Ellen Eichhorn-Wenz, Fachbereichsleiterin Existenzsicherung und Integration bei der Caritas Ludwigsburg-Waiblingen-Enz. Der katholische Wohlfahrtsverband hat vom Landkreis Rems-Murr den Auftrag erhalten, sich unter anderem der sozialen Betreuung der Flüchtlinge in Kirchberg anzunehmen. Den Job teilen sich mit Reinhard Heider und Timea Müller bewusst ein Mann und eine Frau. Denn je nach Problemlage ist der Rat des einen oder anderen Geschlechts gefragt. „Wir haben immer wieder schwangere Frauen. Da ist es gut, wenn eine Frau vor Ort ist und die Wege weist“, nennt Eichhorn-Wenz ein Beispiel.

Für sinnvoll haben es die Fachfrau von der Caritas und ihr Team auch erachtet, klare Regeln festzuzurren. So erlischt das große Licht im Zelt um 22 Uhr. Besuch nach 20 Uhr steht auf dem Index. Vor allem, damit sich keine Männerrunden bilden, die bis Mitternacht zusammenhocken – während die Frauen sich nicht nach draußen trauen, wie Timea Müller erläutert. Usus ist auch, gegen einen Pfosten zu klopfen, ehe man eine der 17 durchnummerierten Kabinen betreten will.

In Nummer 15 leben Yousef und Fatima Al Balhhi mit vier Töchtern und einem Sohn. Wie alle Wohnparzellen hat auch diese keine festen Wände, sondern eine Hülle aus Stoff. Als Eingangstür muss ein langes Tuch herhalten. Wird dieses zur Seite geschoben, landet man in einem kleinen Vorraum, wo unter anderem Fahrräder abgestellt sind. Weiter geht es ins nicht viel größere Wohnzimmer, in dem zugleich geschlafen wird. Die wenigen Quadratmeter sind voll gestopft mit einem Tisch, zwei Kühlschränken, Betten und dem ganzen Hab und Gut der Familie. Und Duschen, Küchenzeilen und Toiletten? Befinden sich wie das Ehrenamtszimmer, in dem Sprachkurse abgehalten werden, in blauen Containern gegenüber vom Zelt.

Während sich die Kinder aufgeregt um die Kamera des Fotografen scharen, erzählt Yousef Al Balhhi, warum er aus Syrien geflohen ist. Die Situation sei immer schwieriger geworden, übersetzt Mariam Ezzedine, Praktikantin bei der Caritas. Er habe die Kinder nicht mehr zum Arzt bringen können. Milch sei sehr teuer geworden, an Schulunterricht war nicht mehr zu denken. Und dazu all die Bomben. „Wo er gewohnt hat, ist alles platt gemacht worden“, erklärt Mariam Ezzedine. „Er konnte dort nicht mehr atmen“, fügt sie hinzu. Hier in Deutschland fühle er sich wieder wie ein Mensch. Über die beengten Verhältnisse will sich Yousef Al Balhhi, der in seiner Heimat als Bauer gearbeitet hat, nicht beschweren. Man müsse sich in Geduld üben, bald könnten er und seine Familie besser leben.

Diese Hoffnung macht es für viele erträglicher, sich mit den aktuellen Verhältnissen zu arrangieren, weiß Timea Müller. Und lange wird es auch nicht dauern, bis das Provisorium verlassen werden kann. Denn ein Gebäude auf dem Gelände wird so umgestaltet, dass es als Asylbewerberheim genutzt werden kann. Dort wird mehr Platz bereitstehen. Vor allem aber verfügt jede Einheit über Türen. „Das ist sehr wichtig“, betont Timea Müller. Noch im Juli sollen die Umbauarbeiten abgeschlossen sein, sagt Ellen Eichhorn-Wenz.

Am Alltag der Bewohner, bei denen es sich ausschließlich um Familien handelt, wird sich dadurch nichts Gravierendes ändern. Morgens wird Frühstück zubereitet. Einer der Väter begleitet die Mädchen und Jungs in der Regel in den Kindergarten, die Schulkinder machen sich meist alleine auf den Weg zum Unterricht, erzählt Timea Müller. Ehrenamtliche schauen regelmäßig vorbei, helfen, wo sie nur können. Die Damen können sich in einem Frauencafé austauschen, die Herren treffen sich in einer Art Männerclub zum Reden und Rauchen. Einige arbeiten auch auf 1,05-Euro-Basis. Zum Beispiel als Dolmetscher oder Reinigungskraft. Ferner müssen Einkäufe getätigt und der Haushalt erledigt werden. „Eigentlich alles ganz normal“, fasst Ellen Eichhorn-Wenz zusammen, die auch darauf hinweist, dass man bei den Flüchtlingen nicht Händchen halten müsse. „Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe“, stellt sie fest.

Es ist auch nicht rund um die Uhr jemand von den Sozialarbeitern vor Ort. Notfalls müssen sich die Asylbewerber an die Security wenden, die 24 Stunden nach dem Rechten sieht. Wobei all die Iraker, Afghanen, Syrer, Tschetschenen, Jesiden und Armenier friedlich miteinander umgehen, wie Timea Müller versichert. Natürlich müsse man hin und wieder Missverständnisse ausräumen. Aber mit der Zeit hätten sich auch Freundschaften entwickelt zwischen all den bunt zusammengewürfelten Menschen, die hier in der Kalkwerkstraße 38 alle unter einem Dach wohnen.