Mathias Beer wird für seine Forschung heute mit dem Ludwig-Uhland-Preis ausgezeichnet. Foto: Archiv

Mathias Beer referiert über Flüchtlinge und Vertriebene im deutschen Südwesten nach 1945 im Museum im Adler.

Benningen - Mathias Beer vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL) in Tübingen hält am Donnerstag, 27. April, um 19.30 Uhr einen Vortrag im Heimatmuseum in Benningen. Am heutigen Mittwoch wird der Zeithistoriker und Migrationsforscher im Ludwigsburger Schloss außerdem mit dem Ludwig-Uhland-Preis ausgezeichnet, der an Personen verliehen wird, die mit ihrem Werk maßgeblich zum Verständnis der Kultur Württembergs oder des Südwestens beigetragen haben. Beer beschäftigt sich mit Flüchtlingen nach 1945 und deren Integration. „Menschenreichtum ist nie ein Nachteil.“ Was genau verstehen Sie unter diesem Titel Ihres Vortrags im Heimatmuseum? Der Satz ist einer Rede von Ministerpräsident Reinhold Meier entnommen, die er am 27. März 1946 in der Vorläufigen Volksversammlung von Württemberg-Baden gehalten hat. Er griff damit die Sorge und Befürchtungen darüber auf, wie die erzwungene Aufnahme von rund 12,5 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen als Folge des zweiten Weltkriegs, davon 1,7 Millionen im deutschen Südwesten, im zerstörten, hungernden und frierenden Nachkriegsdeutschland zu stemmen war. Auf bis ins 17. Jahrhundert zurückgreifende historische Beispiele gestützt, gab er seiner Zuversicht Ausdruck, dass trotz aller Schwierigkeiten auf lange Sicht betrachtet die Integration der Neubürger zu schaffen sei. Mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten würden sich die Flüchtlinge und Vertriebenen zu einem Aktivum entwickeln und damit einen willkommenen Beitrag zum Aufbau und zur Entwicklung des Landes leisten. Diese langfristig betrachtet und unter erheblichen Anstrengungen eingetretenen positiven Folgen von Zuwanderung hatte Reinhold Meier im Blick. Sie stehen auch im Mittelpunkt des Vortrags.

Bleiben die jetzigen Flüchtlinge isoliert? Oder glauben Sie, dass die Neuankömmlinge wieder unsere Gesellschaft bereichern werden? Und wie genau? Der Blick auf historische Migrationen zeigt, dass Migranten, ob Flüchtlinge, Vertriebene oder Einwanderer, in einer ihnen fremden Umgebung zunächst grundsätzlich das Bedürfnis haben, unter ihresgleichen zu bleiben. Diese „Nestwärme“ ermöglicht das allmähliche Hineinwachsen in eine neue Gesellschaft. Die damit verbundenen Entwicklungen weisen zwei Seiten auf. Erstens bringen sich die Neubürger mit ihren Berufen, mit ihrem Aufstiegswillen sowie ihrem kulturellen Gepäck ein und tragen zu Wohlstand und Toleranz in einer Gesellschaft bei, sie bereichern diese. Zweitens lassen Zuwanderer Fehlentwicklungen in der Gesellschaft offensichtlich werden und setzen damit neue Entwicklungen in Gang. Man denke an den sozialen Wohnungsbau, der erst durch den jüngsten Flüchtlingszustrom wieder deutlich in den Mittelpunkt gerückt ist. Die damit verbundenen Anstrengungen werden allen, Zugezogenen und Alteingesessenen zugutekommen. Oder man denke an Notwendigkeit eines Zuwanderungsgesetzes, dessen Bedarf die Flüchtlingsaufnahme wieder deutlich werden ließ. Im Laufe der Aufnahme und Integration von Zugewanderten verändern sich nicht nur die Migranten, sondern die aufnehmende Gesellschaft insgesamt.

Ist die damalige Situation mit der heutigen überhaupt vergleichbar? Damals hieß es „Anpacken für den Wiederaufbau“, heute sind qualifizierte Fachkräfte gefragt? Die Voraussetzungen für die Flüchtlingsfrage nach 1945, wie sie zeitgenössisch genannt wurde, und die gegenwärtige unterscheiden sich grundsätzlich. Sie lassen sich daher, wenn überhaupt, nur bedingt vergleichen. Dennoch ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, wie die Flüchtlingsfrage nach 1945 gelöst wurde. Zum einen hat die Politik mit der Einbürgerung der Flüchtlinge und Vertriebenen, mit dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz, den Maßnahmen im Bereich des Wohnungsbaus sowie der Ankurbelung der Wirtschaft, um nur die wichtigsten Bereiche zu nennen, klare Rahmenbedingungen für die Eingliederung geschaffen. Diese waren zum anderen die Voraussetzung für das allmähliche, von vielen Hürden begleitete Hineinwachsen der Flüchtlinge und Vertriebenen, das sich erst im täglichen Zusammentreffen und Austausch am Arbeitsplatz, in den Parteien, in den Vereinen und in der Nachbarschaft vollzog. Dabei handelte es sich um einen langfristigen Prozess, der sich auch im Fall der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen auf drei und mehr Generationen erstreckt. Zuwanderungs- und Eingliederungsprozesse, auch das zeigt der historische Rückblick, vollziehen sich nicht in Legislaturperioden, sondern Generationen.

Die am ehesten spürbare Bereicherung fand ja im kulinarischen Bereich statt. Man denke an Cevapcici und Cappuccino. Ob die Auswirkungen von Migrationen am ehesten im kulinarischen Bereich spür- oder wahrnehmbar sind, sei dahingestellt. Sicher, Migrationen und ihre Folgen verändern das Angebot von Lebensmitteln, Speisen und Gaststätten. Auch darauf weist die historische Migrationsforschung hin. „Über den Tellerrand geschaut“ lautet der Titel eines von mir jüngst herausgegebenen Bandes. Er untersucht die Verbindungen zwischen Migration und Ernährung vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Einen weit höheren Stellenwert haben gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die von Migrationen ausgelöst werden. Auch hier lohnt sich ein Blick in die Geschichte des Südwestens. Bei der Volksabstimmung vom Dezember 1951, ob Württemberg, Baden und Hohenzollern zu einem Land zusammengeschlossen werden sollten, haben wohl die Flüchtlinge und Vertriebenen, also die Zugewanderten, den Ausschlag für die Entstehung Baden-Württembergs gegeben. Anders formuliert: Baden-Württemberg ist das Ergebnis von Zuwanderung.